Dreamfall - The Longest Journey

Dreamfall - The Longest Journey

(Anaconda)

geschrieben von Christian Graser

 

Bis vor knapp fünfzehn Jahren waren Adventures noch eines der angesagtesten Genres für den PC. Die großen LucasArts-Klassiker hielten die Fahne hoch und auch andere Entwickler erzählten tolle Geschichten in Form von Adventures. Mit dem Fortschritt der Technik, insbesondere dem Siegeszug der 3D-Karten, traten Grafik, Effekte und Action immer mehr in den Vordergrund, glaubwürdige Charaktere und fesselnde Hintergrundstories verschwanden leise und unbemerkt. Heute akzeptiert der Spieler, dass die Hauptfigur, mit der er mehr als 20 Stunden lang ums Überleben kämpft, nicht ein einziges Wort von sich gibt. Umso schöner ist es dann, wenn doch ein Programm auf den Markt kommt, das glaubwürdige Figuren und eine faszinierende Hintergrundgeschichte verspricht. Wir haben uns "Dreamfall", den Nachfolger des preisgekrönten Adventures "The Longest Journey", näher für Sie angeschaut.

Ein modernes Märchen

Eine junge, bildhübsche Frau liegt im Koma. Neben ihrem Bett sitzt ihr trauernder Vater. Plötzlich vernehmen wir ihre Stimme, obwohl sie sich nicht regt und ihre Lippen geschlossen bleiben. Sie spricht uns an, sagt, sie hätte kürzlich selbst ein Erlebnis mit Stimmen aus dem Jenseits gehabt und versuche deshalb, durch diese außerkörperliche Erfahrung jemanden zu erreichen - irgendjemanden. Falls irgendwer dies hören könne, so möge er bitte genau zuhören, es sei sehr wichtig - vielleicht das Wichtigste, was es jemals gegeben habe!

Diese Szene wird so stimmungsvoll dargestellt, dass Sie von Beginn an in den Bann des Spiels gezogen werden. Selten war ein Titel von der ersten Minute an derart faszinierend. Das Abenteuer beginnt einige Wochen vor dieser dramatischen Eröffnungssequenz. Zoë Castillo, die junge Frau aus dem Intro, lebt im Casablanca des Jahres 2219. Sie hat ihr Biotechnik-Studium geschmissen, sich von ihrer großen Liebe Reza getrennt und weiß nichts mit sich anzufangen, außer fernzusehen und wenigstens ab und an ihr Kampfsporttraining wahrzunehmen. Als sie wieder einmal vor der Glotze sitzt, wird die Nachrichtensendung von einer merkwürdigen Störung unterbrochen. In einer Schneelandschaft taucht vor einem gruseligen Haus ein kleines Mädchen auf, das zu Zoë spricht: "Finde April Ryan - rette sie!". Als die gleiche Szene auf verschiedenen TV-Geräten immer wieder auftaucht und auch ausgeschaltete Fernseher dieses Mädchen zeigen, das außer Zoë anscheinend niemand wahrnimmt, beginnt die Heldin des Spiels an ihrem Verstand zu zweifeln. Als sie dann auch noch Zeugin eines Mordversuchs wird und ihr Exfreund verschwindet, wird sie in eine Geschichte hineingezogen, die nach und nach unvorstellbare Ausmaße annimmt.

Drei Charaktere, zwei Welten - eine fantastische Geschichte

Neben Zoë steuern Sie noch zwei weitere Figuren: April Ryan, die Hauptfigur aus dem Vorgänger "The Longest Journey" und den Killer Kian. Beide leben in einer Parallelwelt, in der nicht die Wissenschaft die treibende Kraft ist, sondern die Magie. Als Spieler lernen Sie so Stück für Stück die beiden Welten "Stark" und "Arcadia" kennen, bevor die drei Handlungsstränge immer mehr miteinander verschmelzen und ein Ganzes ergeben. Dabei wechseln Sie - ähnlich wie in einem guten Roman - immer an der spannendsten Stelle den Charakter. Da die Geschichte sehr fesselnd ist, werden Sie das Gamepad kaum aus der Hand legen wollen.

Gamepad? Ja, denn mit Maus und Tastatur spielt sich "Dreamfall" leider nicht ganz so gut wie mit einem Controller. Insbesondere die Koordination von Figur und frei drehbarer Kamera geht mit einem konsolentypischen Eingabegerät deutlich flüssiger von der Hand. Sie steuern die Helden in der Third-Person-Perspektive durch die farbenfrohen 3D-Welten, lösen klassische Rätsel, führen Dialoge und tragen hin und wieder einen einfachen, sehr rudimentären Kampf aus, der in vielen Fällen auch umgangen werden kann.

Neben der tollen Story sorgt das Spiel insbesondere durch sehr ausführliche Dialoge für glaubwürdige Charaktere und für verschiedene Lösungsmöglichkeiten einzelner Szenen. So entdecken Sie mit Zoë beispielsweise in der Empfangshalle eines Konzerns auf einem Überwachungsmonitor eine Person, die offensichtlich eingesperrt wurde. Sie können nun entscheiden, ob die wenig vertrauenerweckende Empfangsdame auf den Bildschirm aufmerksam gemacht werden soll, oder ob Sie versuchen, sie durch ein Gespräch abzulenken. Je nachdem, welcher Weg von Ihnen gewählt wird, lösen Sie solche Szenen auf unterschiedliche Weise; der Fortgang der Story ändert sich durch solche Entscheidungen jedoch nicht.

Rätsel, Dialoge und Geschick

Ein Schwerpunkt vieler Adventures sind die Rätsel. Es gilt oft, alles mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist, wodurch das Inventar häufig hoffnungslos überladen wird. Hier geht "Dreamfall" den Weg in eine andere Richtung. Selten werden Sie mehr als fünf Gegenstände mit sich herumtragen, Rätsel sind immer logisch nachvollziehbar und meist leicht zu lösen. Darüber hinaus ist es endlich einmal nicht erforderlich, an manchen Stellen des Spiels alle Gegenstände miteinander zu kombinieren, um die Lösung zu finden, sondern meist liegt sie - mit etwas Nachdenken - auf der Hand. Ihr Gehirn dürfen Sie trotzdem nicht ausschalten, denn viele Hinweise zum weiteren Vorgehen sind geschickt in den zahlreichen Dialogen versteckt; und auch die Minispielchen, die beim Knacken von Schlössern zu meistern sind, erfordern den Einsatz Ihrer grauen Zellen.

Die meiste Zeit verbringen Sie in "Dreamfall" mit dem Führen von Dialogen. Dabei wählen Sie nicht wie bei anderen Genrevertretern den exakten Wortlaut aus, sondern lediglich das Thema beziehungsweise den Sprachgestus Ihres jeweiligen Protagonisten gegenüber dem Gesprächspartner beispielsweise 'drohend' oder 'bittend'. Auch können Sie selbst entscheiden, wie viel Unterhaltung Sie wollen. Sie müssen nicht stur alle Dialogoptionen durchspielen, um einen Fortgang der Geschichte zu erreichen. Viele Themen sind optional, helfen aber dabei, die Charaktere und deren Hintergründe zu verstehen. Auf diese Weise wachsen Ihnen auch Nebenfiguren schnell ans Herz und werden glaubwürdig. Um den Spielverlauf etwas aufzulockern, wurden stellenweise kleine Geschicklichkeitseinlagen eingebaut, in denen Sie sich unter anderem vor Überwachungsdrohnen in Nischen verstecken müssen. Diese Szenen sind aber, ebenso wie die Kämpfe, sowohl selten als auch einfach.

Technisch auf der Höhe der Zeit

Optisch kann "Dreamfall" zwar nicht mit aktuellen Shootern mithalten, bei Adventures spielt es aber grafisch in der ersten Liga mit. Sie spüren förmlich die Hitze im sonnigen Casablanca, bestaunen die märchenhafte Szenerie der Fantasy-Welt Arcadia und die schicken Effekte wie nasses Kopfsteinpflaster, glänzende Metalloberflächen oder Lichtreflexionen. Die Animationen der Charaktere sind etwas staksig geraten und kein Vergleich zu Lara Croft; dafür punktet der Titel mit der sehr detaillierten Mimik der Helden. Sie kommt vor allem bei den Großaufnahmen während der Dialoge zur Geltung und zeigt sehr überzeugend die Emotionen der Figuren.

Klotzen statt Kleckern ist auch bei der akustischen Untermalung des Spiels die Devise. Die Hintergrundmusik passt sich den Spielszenen an: düster in verregneten Gebieten, mystisch in der Welt der Magie und orientalisch in Casablanca. Dabei hält sie sich dezent zurück und lässt den guten Soundeffekten und der großartigen Sprachausgabe den Vortritt. Zoë spricht mit der deutschen Stimme von Angelina Jolie und auch die anderen Charaktere wurden von professionellen Sprechern vertont. Bei den wahlweise zuschaltbaren Untertiteln wurden hin und wieder kleine Übersetzungsfehler vom Englischen ins Deutsche gemacht, aufgrund der herausragenden Sprachausgabe ist die Textdarstellung der Dialoge im Grunde jedoch überflüssig. Da "Dreamfall" auf DVD erschienen ist, hat Anaconda als besonderes Schmankerl die ebenso tolle englische Tonspur mit auf den Datenträger gepackt, so dass Sie wie bei einem Film jederzeit zwischen Deutsch und Englisch wechseln können.

 

  

Ganz großes Adventure

Wie oft beklagen sich Spieler in jüngster Zeit darüber, dass kaum noch innovative Spiele erscheinen, sondern lediglich Fortsetzungen oder Abklatsche erfolgreicher Serien. "Dreamfall" ist sicherlich keine Revolution im Genre der Adventures, aber es besinnt sich auf die ganz große Stärke dieser Titel: das Erleben einer fantastischen Geschichte mit glaubwürdigen Charakteren. Die Story ist faszinierend, die Figuren besitzen positive und negative Eigenschaften, die Dialoge fügen sich harmonisch in das Spielprinzip ein - ich will gar nicht mehr aufhören. Selten hat mich ein Spiel von Beginn an derart gefesselt. Leider ist die Steuerung mit Maus und Tastatur relativ umständlich, geht mit einem Gamepad nach kurzer Eingewöhnung aber flüssig von der Hand. Wenn Sie sich von langen Dialogen nicht abschrecken lassen und auf knifflige Rätsel verzichten können, dann lassen Sie sich von einem modernen Märchen gefangen nehmen und verpassen Sie dieses Spiel nicht.

(27.06.2006)

Entwickler: Funcom
Publisher: Anaconda
Genre: Adventure
Releasedate: Bereits erhältlich
Homepage: Dreamfall
Preis: 44,99 €
Altersfreigabe: Freigegeben ab 12 Jahren gemäß §14 JuSchG.

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